Über die Elektricität auf Landwegen

»Die Elek­tric­ität«, so prophezeite DER MOTORWAGEN 1898, »wird im kom­menden Jahrhun­dert die bewe­gende Kraft sein für ele­gante Fiak­er und für Luxu­swa­gen in Städten..«, der Ben­z­in­wa­gen hinge­gen sei prädes­tiniert »für schnelle Fahrten, große Reisen und weite Aus­flüge über Land«.
Mit Prog­nosen sollte man vor­sichtig sein, und so griff auch Deutsch­lands älteste Motorzeitschrift um mehr als 100 Jahre daneben. Hell­sichtig dage­gen die Auf­gaben­teilung: Elek­troau­tos für die Stadt, Ver­bren­nungsmo­toren für Mit­tel- und Langstreck­en. Der Vorschlag wird auch heute wieder von klu­gen Köpfen vorge­bracht, nur dass wir für »weite Aus­flüge« gern einen Hybrid als Beruhi­gungspille und Reich­weit­en­ver­län­ger­er an Bord hät­ten. Damit sprach der MOTORWAGEN schon damals einen Sys­temwech­sel an, der uns dem­nächst ins Haus ste­hen wird: Mit nur einem Auto, mit nur einem Antrieb­ssys­tem Stadt- und Fern‑, Berufs- und Urlaub­sverkehr bewälti­gen zu wollen, ist unwirtschaftlich. In Zukun­ft also Diver­si­fizierung der Verkehrsmit­tel und ‑antriebe je nach Ein­satzz­weck statt Monopol­stel­lung des Ver­bren­nungsmo­tors als Universalantrieb.
Das hat­ten die Amerikan­er vor langer Zeit verin­ner­licht. Den Verkehr zwis­chen den im weit­en Kon­ti­nent isoliert liegen­den Kom­munen über­nahm die Eisen­bahn, in den Ortschaften selb­st spiel­ten Elek­tro- und Dampfwa­gen, bei­de mit einem begren­zten Aktion­sra­dius, ihre Vorteile aus. Die Elec­tric Vehi­cle Co. eröffnete 1898 in New York die weltweit größte Ladesta­tion, in der dank hydraulis­ch­er Hebezeuge und elek­trisch angetrieben­er Förder­bän­der der Bat­ter­iesatz ihrer Tax­en inner­halb von 75 Sekun­den aus­ge­tauscht wer­den kon­nte — Vor­läufer und Vor­bild für das Bet­ter Place-Wech­sel­sys­tem, mit dem uns Shai Agas­si heute, über ein Jahrhun­dert später, aufs Neue beglück­en möchte. Ent­lang der Atlantikküste ent­standen Ladesta­tio­nen auch für gewerbliche und Pri­vat-Elek­troau­tos. Die eAu­to-Indus­trie wuchs zu einem Wirtschafts­fak­tor her­an: Eine Bestand­sauf­nahme ergab 4.192 Straßen­fahrzeuge im Jahr 1900, davon 37,6 % mit elek­trischem, 40,1 % mit Dampf- und nur 22,3 % mit Benzinantrieb.
Um diese Zeit hat­te sich Europa bere­its für den Ben­z­in­mo­tor entsch­ieden, obwohl hier die Anfänge des eAntriebs liegen. In den Nieder­lan­den hat­ten Beck­er und Strat­ingh den »Elek­tro­mag­net­ismus zur Her­vor­bringung ein­er fortschre­i­t­en­den Bewe­gung« genutzt, indem die Rota­tion von Stab (Anker) und Hufeisen (Hülse) über »ein Kro­n­rad auf die hor­i­zon­tale Axe eines Wagens über­tra­gen wird« (Poggen­dorfs Annalen 1839). Von dem kleinen Wagen ging keine kon­tinuier­liche Entwick­lung aus, wohl aber vom elek­trisch angetriebe­nen Tilbury, mit dem der Paris­er Wagen­bauer Charles Jean­taud 1881, fünf Jahre vor Benz’ Motor­wa­gen, ein paar Meter zurück­legte. Später lieferte sich Jean­taud mit stets verbesserten eWa­gen heiße Duelle mit dem Bel­gi­er Camille Jenatzy, bis dieser am 29. April 1899 mit 105,8 km/h den Geschwindigkeits-Wel­treko­rd mit einem eWa­gen aufstellte.
Die erste elek­trische Eisen­bahn von Wern­er Siemens 1879, die erste bat­terie-elek­trische Straßen­bahn von Nico­las-Jules Raf­fard 1881 und die Ver­suche von Siemens & Halske 1882, Max Schie­mann 1901 und der Dres­d­ner Wagen­bauanstalt Stoll 1902 mit Ober­leitungs-Omnibussen regten den Bau von Elek­tro­mo­bilen an. Seit 1881 ent­standen haupt­säch­lich in Frankre­ich eine ganze Anzahl von Bi- und Tri­cy­cles mit Elek­troantrieb. Der franzö­sis­che Wagen­bauer Louis Antoine Kriéger führte 1894 mit einem umge­baut­en Vik­to­ria die so genan­nte Vorspann-Tech­nik ein. Dabei han­delte es sich um ein unter den Kutschen-Vorder­wa­gen geschobenes eAntrieb­sag­gre­gat, das Vorder­achse, Deich­sel und Pferd über­flüs­sig machte. 1896 erset­zte Kriéger den kippfreudi­gen, weil Drehgestell voraus­set­zen­den Antrieb durch Achss­chenkel­lenkung und je einem pro Rad zugeteil­ten eMo­tor, der neben der Serien- eine Par­al­lel- oder Erregerwick­lung aufwies. Sie ließ den Motor beim Brem­sen als Gen­er­a­tor arbeit­en, die kinetis­che wurde in elek­trische Energie umge­wan­delt und lud die Bat­terie — Reku­per­a­tion anno 1896.
Die zukun­ft­strächtige franzö­sis­che Fahrzeugtech­nik fand Nachah­mer in den USA, wo um 1896 die ersten eTaxis in Dienst gin­gen, gefol­gt von Eng­land 1897, Deutsch­land 1898 und Öster­re­ich 1900. Die Berlin­er Wagen­bau­fir­men Kühlstein und Kliemt baut­en Elek­tro-Kutschen und Vorspann- Briefkar­riols, gefol­gt von E‑Mylords der Köl­ner Wagen­bau­fir­ma Hein­rich Scheele 1899 sowie Vorspann-Liefer­wa­gen der Vulkan-Auto­mo­bil-Gesellschaft in Berlin und der Säch­sis­chen Akku­mu­la­toren­werke in Dres­den. Die Wiener Hofwa­gen­fab­rik Jakob Lohn­er bot ab 1900 Per­so­n­en­wa­gen, ab 1903/04 Nutz­fahrzeuge mit bat­terie-elek­trischem Antrieb an, die als Beson­der­heit von Fer­di­nand Porsche entwick­elte Rad­kör­per­mo­toren aufwiesen.
Die Nachteile der Strom­spe­ich­er — geringe Energiedichte, hohes Gewicht, teure Her­stel­lung, kurze Lebens­dauer, anfäl­lig gegen Erschüt­terun­gen — ver­an­lassten den spanis­chen Artillerie-Offizier Emilio de la Cuadra zum Bau des wohl ersten Hybrid-Antriebs 1899. Aus dem­sel­ben Jahr stam­men ben­zinelek­trische Leicht­fahrzeuge der Gebrüder Hen­ri und Nico­las Pieper in Lüt­tich, gefol­gt von Lohn­er-Hybrids ab 1901 nach Kon­struk­tion Porsche.
In Europa war die Begeis­terung für das Elek­troau­to kurz nach 1900 ver­flo­gen, Ernüchterung machte sich bre­it: Die Bleiakkus waren den Anforderun­gen nicht gewach­sen, hinzu kamen Prob­leme mit den Reifen: Voll­gum­mireifen gaben die Fahrbahn­stöße nahezu ungefed­ert an die Bat­te­rien weit­er, die allmäh­lich zer­brösel­ten. Waren Luftreifen mon­tiert, drück­te das Gewicht der Akkus die Lau­fleis­tung der Reifen, die um diese Zeit ohne­hin nur 2.000 bis 4.000 km betrug, weit­er nach unten. So scheit­erte das Elek­troau­to der Gen­er­a­tion vor 1900 nicht nur an der Bat­teri­etech­nik, son­dern auch an den damit ver­bun­de­nen zusät­zlichen Kosten und an der fehlen­den Zusam­me­nar­beit der drei beteiligten Wirtschaft­szweige Wagen­bau, Elek­tro­mo­torenin­dus­trie und Batterieherstellung.
In Deutsch­land mit sein­er Vor­liebe für Son­der­wege ver­lief die Entwick­lung anders — und ver­spätet, so wie heute. Abge­se­hen von den schon erwäh­n­ten Pio­nier­fir­men begün­stigten lokale Ver­wal­tungsvorschriften eine Elek­tri­fizierung der Tax­i­flot­ten in Berlin, Köln, Ham­burg und Bre­men ab 1904. AEG und Siemens fol­gten NAMAG/Bremen und Hagen/Köln mit der Pro­duk­tion von eTaxis ab 1905 und 1906 und beteiligten sich an Droschken-Gesellschaften. Sie ver­fügten, wie auch gewerbliche Großkun­den (Kaufhäuser) und Post, über eigene Ladesta­tio­nen. Die AEG-ges­teuerte ABAG betrieb 1912 mit 100 Elek­tro- und 140 Ben­z­in­au­tos Deutschlands
größte Taxiflotte.
Siemens baute bis 1911, AEG bis 1915 eTaxis, Luxu­swa­gen und Nutz­fahrzeuge. Nach dem Ersten Weltkrieg ver­drängte das mit Ver­bren­nungsmo­tor angetriebene Auto­mo­bil das Elek­troau­to. Die Indus­trie set­zt heute dort wieder an, wo einst die Entwick­lung unter­brochen wurde, allerd­ings mit
neuen Möglichkeit­en und Herausforderungen.
Dipl.-Ing. (FH) Erik Eckermann
autohistorica@t‑online.de

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